Zum Inhalt springen

Die Schrift unter den Fingern

Brailleschrift, bei der Schriftzeichen als erhabene Punkte dargestellt werden, ist weithin bekannt. Doch es gibt weit mehr Hilfsmittel, die sehbehinderten und blinden Menschen die selbstständige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen.

Computer-Tastatur mit größerer Beschriftung und angeschlossener Braillezeile

Der 1809 geborene Louis Braille war erst 16 Jahre alt, als er die „Blindenschrift“ erfand, die später zu seinen Ehren in „Brailleschrift“ umbenannt wurde. 2018 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 4. Jänner, seinen Geburtstag, als Welttag der Brailleschrift ausgerufen. Dieser soll auf die Situation blinder und stark sehbehinderter Menschen aufmerksam machen und auf die Wichtigkeit der Brailleschrift hinweisen. Denn für diese Personengruppe bedeutet sie Selbstbestimmung und Unabhängigkeit.

Wir haben den Welttag zum Anlass genommen, um mit Angela Engel und Martin Mayrhofer, die beide blind sind, ein Interview zu führen. Sie arbeiten bei der Firma Videbis, die blinde und sehbehinderte Menschen berät, bei Förderansuchen unterstützt und Hilfsmittel vertreibt, die deren Lebensqualität entscheidend verbessern.

Lesegerät, das gerade vorliest - mit dem aktuellen Wort rot umrandet. Am Bildschirm ist ein Text über künstliche Intelligenz zu sehen.

Wie können blinde und sehbehinderte Menschen am Bildschirm arbeiten?

Engel: Für sehbehinderte Menschen gibt es Lesegeräte mit Bildschirmen in verschiedenen Größen, wo man etwas darunterlegen kann und durch eine Kamera Texte, Bilder oder ähnliches stark vergrößert am Bildschirm dargestellt werden. Das geht sogar so weit, dass Menschen, die schlecht sehen, darunter Formulare ausfüllen.

Mayrhofer: Das ist dann auch sehr stark abhängig, welche Interessen und Hobbys man hat. Der eine mag Handwerken, der braucht das Lesegerät, damit er den Faden durch das Nadelöhr einfädeln kann. Dann gibt es die Wissenschaftler, die brauchen etwas, damit sie wieder lesen können und sind dann total happy, wenn sie wieder wie früher drei Bücher am Tag verschlingen können.

Lesegerät, das gerade vorliest - mit dem aktuellen Wort rot umrandet. Am Bildschirm ist ein Text über künstliche Intelligenz zu sehen.

Engel: Bei den elektronischen Hilfsmitteln für blinde Menschen gibt es einerseits welche mit elektronischer Sprachausgabe wo ich kein Display habe, sondern wo mir, wenn ich einen Knopf drücke, die Funktion angesagt wird. Andererseits gibt es Hilfsmittel mit Blindenschrift wie die Braillezeilen. Die sind der Bildschirm für die Blinden, wenn man so will, der Bildschirm für die Finger. Die Braillezeile kann man an den Computer anschließen oder mit dem Smartphone verbinden und dann kann man mit den Fingern lesen, was normalerweise am Bildschirm steht.

Gibt es auch einen Drucker, der in Braille-Schrift druckt?

Mayrhofer: Es gibt normale Brailledrucker, die wirklich Punkte in ein Papier hineinstanzen. Die sind auch dementsprechend laut – das ist etwas, um den Bürokollegen zu ärgern. Dann gibt es noch sogenannte Schwellkopierer, die kann man vor allem verwenden, um grafische Informationen zugänglich zu machen. Da schiebe ich eine Vorlage, die ich auf einem normalen Laserdrucker auf eine spezielle Folie ausgedruckt habe, durch diesen Schwellkopierer und dann werden die Sachen, die schwarz gedruckt worden sind, aufgeschwollen und man kann die Grafik abtasten.

Lesegerät, bei dem die Schrift weiß auf schwarzem Hintergrund dargestellt wird. Am Bildschirm ist ein Text über künstliche Intelligenz zu sehen.

Wenn man sich als blinder Mensch eine komplette Computerausstattung anschafft, mit welchem Betrag muss man da rechnen?

Mayrhofer: Es gibt natürlich wie bei jeder Art von elektronischen Geräten unterschiedliche Modelle und auf den Heller kann man es nicht sagen. Aber summa summarum mit Software und wenn man den Computer mit einrechnet und die Braillezeile mit Screen Reader, da bewegen wir uns schon jenseits der 10.000 Euro. Das ist für private Personen de facto nicht zu stemmen. Deswegen ist es gut, dass es die Fördermöglichkeiten gibt.

Lesegerät, bei dem die Schrift weiß auf schwarzem Hintergrund dargestellt wird. Am Bildschirm ist ein Text über künstliche Intelligenz zu sehen.

Übernehmen eigentlich die öffentliche Hand oder die Krankenkasse einen Teil der Kosten?

Engel: Die ÖGK nicht, die BVAEB manchmal und ich glaube, ein paar andere auch. Es kommt immer auf die Kasse an. Die ÖGK zahlt aus Prinzip keine Blindenhilfsmittel. Aber Lesegeräte, die die Unterlagen vergrößern, fördern sie schon. Das ist eigenartig, denn eine Braillezeile ist auch nur ein Bildschirm.

Mayrhofer: Mittlerweile ist es von der Bürokratie sogar so lustig, dass, obwohl man weiß, dass die ÖGK nichts bezahlt, die anderen Kostenträger darauf bestehen, dass man sich vorher eine Ablehnung von der ÖGK holt. Das heißt vom Aufwand her: Ich brauche eine Verordnung vom Augenarzt, damit ich bei der Krankenkasse für etwas einreichen kann, was sie mir eh nicht zahlen, damit ich dann weiter einreichen kann. Da ist man ziemlich mit Zettelwirtschaft beschäftigt. 

Handlupen mit LED-Beleuchtung in unterschiedlicher Größe

Ich habe gehört, dass die Art der Beleuchtung auch sehr wichtig ist.

Mayrhofer:Es gibt unterschiedliche Arten von Licht, direkte oder indirekte Beleuchtung und flimmerfreie Leuchtmittel. Man kann also auf jede Sehbehinderung hin abstimmen, welches Licht für den Kunden am besten geeignet ist. Dadurch dass man die Beleuchtung gut designt und gut plant kann dann derjenige zum Beispiel am Arbeitsplatz viel mehr auch ohne Hilfsmittel erreichen. Das kommt aber stark auf die Sehbehinderung an.

Engel: Ich habe ganz wenig Sehrest. Bei mir ist es tatsächlich so, dass mir mein ganzes Leben, bis ich bei Videbis angefangen habe, in allen Innenräumen zu wenig Beleuchtung war. Ich kann noch kräftige Farben erkennen, aber da muss ich ein wirklich gutes, helles Licht haben. Ich bin der beste Beweis, dass das funktioniert, was wir hier tun. Ich habe mir vor 10 Jahren in der Wohnung eine passende Beleuchtung installieren lassen und bin sehr froh darüber. Es ist nicht so, dass ich auf einmal viel sehe, aber alleine beim Kleiderschrank ist es schon hilfreich.

Handlupen mit LED-Beleuchtung in unterschiedlicher Größe
Martin Mayrhofer, zuständig für Beratung, Verkauf, Schulung und Support bei der Firma Videbis

Die Beratung ist ein ganz wichtiger Aspekt, weil keine zwei Leute haben hundertprozentig die gleichen Bedürfnisse.

Martin MayrhoferBeratung, Verkauf, Schulung und Support im Bereich Assistierende Technologien für blinde Menschen

Eine ganz andere Frage: Wie alt sind Ihre Klientinnen und Klienten?

Mayrhofer: Wir decken vom Kind bis zum Greisen alles ab und beginnen bereits bei Kleinstkindern mit Low Vision Abklärung, wo man schaut, wieviel Sehrest hat das Kind. Es gibt spezielle Techniken, um zu eruieren, was ein Kleinkind sieht.

Das Spiel "Mensch ärgere dich nicht" für blinde und sehbehinderte Menschen mit Steckbrett

Wie sieht es mit der Freizeitgestaltung bei blinden oder stark sehbehinderten Kindern aus, gibt es spezielle Spiele für sie?

Mayrhofer: Grundsätzlich gibt es normale Gesellschaftsspiele für blinde Kinder genauso. In der Regel werden die einfach ein bisschen anders ausgeführt. Wenn man „Mensch ärgere dich nicht“ spielt, hat man ein Steckbrett, wo man die Figuren ins Spielbrett hineinsteckt, damit sie nicht umfallen und man sie mit der Hand abtasten kann. Man hat einen Würfel mit Nägeln drauf, damit man abtasten kann, was man gewürfelt hat. Solche Möglichkeiten gibt es durchaus. Natürlich ist das Spielangebot deutlich niedriger als für Sehende. Komplizierte Kartenspiele sind nicht so leicht handzuhaben, weil man keinen Überblick hat. Andere Spiele sind dann wieder super geeignet. Zum Beispiel Schach wird gerne in Blindenkreisen gespielt. Von dem her ist auch für jeden sicher das Richtige dabei.

Das Spiel "Mensch ärgere dich nicht" für blinde und sehbehinderte Menschen mit Steckbrett

Kann man auch Videospiele spielen?

Mayrhofer: Für die Playstation gibt es zum Beispiel reguläre Titel, die barrierefrei spielbar sind. Ein PC-Spiel, das ich sehr gerne gespielt habe, war „Shades of Doom“. Das ist ein auf Audio basierter Doom-Klon speziell für Blinde. Das hat ein blinder Kanadier programmiert. Der ist späterblindet und hat sich geärgert, dass er die Computerspiele, die er gerne gespielt hat, nicht mehr spielen konnte. Dann hat er „Doom“ umprogrammiert, damit man das rein akustisch spielen kann. Wenn man durch die Gänge geht, hört man die Schritte der Figur, die man bewegt, und man hört dann anhand des Echos zum Beispiel, ob links eine Abzweigung ist. Oder ein Monster macht Geräusche und dadurch hört man, wo es ist. Das ist wirklich sehr beeindruckend.

Engel: Es gab auch einmal ein Spiel für das iPhone, das hat „Papa Sangre II“ geheißen, das hat auf die Bewegungen vom Handy und insofern auch von mir selber reagiert. Wenn ich mich mit dem Handy gedreht habe, hat es das gewusst. Das war 3D Audio und man musste es mit Kopfhörern spielen. Ich war dann wie in dieser Welt mitten drin. Ich habe hinter mir etwas gehört oder schräg rechts vor mir.

Angela Engel, zuständig für Beratung, Verkauf, Schulung und Support bei der Firma Videbis

Menschen mit Sehbehinderungen sind genauso vielfältig wie alle anderen. Darum gibt es auch so vielfältige Möglichkeiten mit den Hilfsmitteln.

Angela EngelBeratung, Verkauf, Schulung und Support im Bereich Assistierende Technologien für blinde Menschen

Wissen Sie von Hilfsmitteln, die gerade entwickelt werden?

Engel: Es kommt gerade sehr viel an Hilfsmitteln durch die KI-Revolution. Wir haben jetzt schon einige Systeme, die nicht nur vorlesen können. Früher hat man ein Blatt unter das Vorlesegerät gelegt und es hat den Text von ganz oben bis ganz unten gelesen, so wie er dasteht. Dank der KI ist es jetzt möglich, sich Texte überblicksmäßig zusammenfassen zu lassen und dann dazu Fragen zu stellen. Zum Beispiel bei einer Stromrechnung nach dem Jahresverbrauch oder nach einer IBAN-Nummer.

Welche technischen Hilfsmittel gibt es noch, die Sie im Alltag unterstützen?

Engel: Es gibt richtige Haushaltshilfsmittel, wie sprechende Uhren, Waagen oder eine sprechende Wetterstation. Aber eines meiner persönlichen Lieblingsgeräte ist der „Milestone“, ein ganz kleines Diktiergerät. Das ist mein Zettel und Bleistift. Den kann ich immer in der Hosentasche haben und wenn ich etwas notieren möchte, spreche ich drauf. Dieses Gerät ist nicht nur ein Diktiergerät, sondern mittlerweile auch MP3-Player, Hörbuchspieler, FM Radio- und Webradioempfänger. Und eine Farberkennung gibt es auch dazu, die man oben drauf steckt. So kann ich zum Beispiel schauen, dass ich nicht zwei verschiedene Socken anhabe oder beim Kochen Paprikafarben aussuchen.

Und nicht zu vergessen, das Smartphone. Dafür bieten wir Schulungen an. Ich habe damit so Sachen zur Verfügung wie die Fahrplan-App der ÖBB. Ich kann am Handy nachschauen, wann fährt der Zug, hat er Verspätung, auf welchem Bahnsteig hält er und so weiter. Dazu muss man sagen, das können nicht alle verwenden. Es ist schon ein bisschen komplexer, dass man diese Gestensteuerung lernt. Die ist speziell für blinde Menschen konzipiert worden. Wenn man ein bisschen ein Geek ist, so wie wir zwei, dann geht das natürlich.

Mayrhofer: Das einfachste, aber trotzdem ein total wertvolles Hilfsmittel ist der Blindenstock. Es gibt zwar grundsätzlich Versuche, den Blindenstock durch andere Sensoren zu ergänzen oder zu ersetzen, aber in Wirklichkeit muss ich eine Lanze für die Blindenlanze brechen. Ein Blindenstock steht für Independence.

Unterstützung über den Soforthilfefonds

Kinder und Jugendliche mit einer visuellen Einschränkung können am Bundes-Blindeninstitut eine sogenannte Low Vision Untersuchung machen. Dabei wird abgeklärt, welche Hilfsmittel wie zum Beispiel Lupen, spezielle Brillen oder Beleuchtungsmittel notwendig sind, um die Lernumgebung oder später den Arbeitsplatz nach den individuellen Bedürfnissen zu gestalten. Wir unterstützen diese Abklärung im Rahmen des Soforthilfefonds.

Außerdem leisten wir über diesen Fördertopf Zuzahlungen, damit sich blinde und sehbehinderte Menschen jene Hilfsmittel anschaffen können, die sie zur besseren Gestaltung ihres Alltags benötigen, vom Lesegerät bis zur Braillezeile.